Das IMPULS- Festival für Neue Musik Sachsen-Anhalt ist jung und frisch

IMPULS Festival für Neue Musik Sachsen-Anhalt  Steintor-Varieté, Halle (Saale), 14. Oktober 2020 (Eröffnungskonzert)

Steintor-Varieté, Halle (Saale), 14. Oktober 2020 (Eröffnungskonzert)

Fotos: (c) Peter Adamik

von Guido Müller

Das 2008 gegründete IMPULS Festival für Neue Musik Sachsen-Anhalt erfährt im verflixten 13. Jahr nicht nur die Corona bedingten Beschränkungen, sondern auch starken kulturpolitischen Gegenwind im Land mitten in Deutschland. Daraus hat der Intendant und renommierte niederländische Komponist Hans Rotman trotzig mit neuer Kraft, Ideen und Austausch in europäischen Vernetzungen 2020 ein Festivalprogramm geschaffen, das jünger und frischer wirkt als je zuvor.

Dahinter steht der erstmalige künstlerische und solidarische Zusammenschluss von mehr als 20 renommierten Festivals zeitgenössischer Musik F.A.C.E. (Festival Alliance of Contemporary Music in Europe). Aus der aktuellen Krise in Zeiten menschlicher und nationaler Distanzierung, die drastisch die Schwachstellen unseres Kultursystems offenbart, erwächst die dringende Notwendigkeit solidarischer Allianzen. Dazu haben sich die international führenden Festivals für moderne Musik in Amsterdam (GAUDEAMUS), Brüssel (ARS MUSICA), Siena (CHIGIANA FESTIVAL), Stuttgart (ECLAT) und das jüngste in Sachsen-Anhalt (IMPULS) für das Eröffnungskonzert verbunden.

Im IMPULS-Eröffnungskonzert in Halle an der Saale  werden in zwei deutschen Erstaufführungen und zwei Uraufführungen junger Komponistinnen von diesen Festivals aktuelle Produktionen vorgestellt.

Dabei steht die Verbindung der Förderung musikalischer Talente mit bereits etablierten Künstlern im Vordergrund. Begleitet wird dies durch eine Fachkonferenz, Masterclasses, über das Jahr verteilten Konzerten und Veranstaltungen in Sachsen-Anhalt und darüber hinaus und durch die Kooperation mit Schulen, so dass zeitgenössische Komponisten in Austausch mit Schülern kommen. Fragt man die Künstler und Komponisten des Festivals, wie man den Weg zur Neuen Musik findet, fällt immer wieder der Begriff der „Neugier“. Also die Lust, ja Gier auf Neues, Frisches, Zeitgenössisches, Aktuelles.

(c) Peter Adamik

Diese „Neugier“ spricht gleich die erste, etwas über 40 Minuten lange Komposition des Abends „Wall“ des Niederländers Aart Strotman in besonderer Weise an. Mit dem Titel verweist der Komponist auf die Rückkehr der Mauern in unserer aktuell politisch besonders unruhigen Zeit – von US-amerikanischen Mauern nach Mexiko bis zu Firewalls. Dafür baut er vier Perkussionisten eine Riesen-Marimba mit mikrotonalen Röhrenglocken als Verbindungsinstrumenten. Ergänzt wird diese Schlagzeugmauer mit Perkussionisten durch vier Gitarristen, die die Klangmauer der Perkussionsgeräusche oft elektronisch verstärkt und verfremdet durchbrechen, in an Minimal-Music erinnernden Kaskaden unterstützen und in diversen Rückungen folgen. Zusammen kommt es dabei auch zu für die Ohren des Publikums in Gewaltausbrüchen schmerzhaften Klangeruptionen.

Die angekündigten BAD BOYS aus Italien fielen teilweise durch Erkrankung und Corona-Bedingungen aus. Dafür hatte das Publikum das Vergnügen, im wahrsten Sinne des Wortes, deutlich am Gelächter, dem virtuosen Flötisten Manuel Zurria in drei Stücken zu folgen. In einer Komposition dekonstruiert Mario Pagliarani einen italienischen Popsong und Zurria löst nicht nur die Komposition auf, sondern in clownesker Weise bringt er sich stumm, pantomimisch und tänzerisch mit seinem Körper als Instrument ein, während die Flöte schweigt.

Sarah Wéry bringt zur deutschen Erstaufführung ihr 15 minütiges Werk BUKKAKE für das Münchner Ensemble „der/gelbe/klang“ mit Mezzosopran (virtuos und anrührend Salome Kammer im als Instrument genutzten eigens angefertigten Muschelkleid), Schlagzeug (mit einem erweiterten Instrumentarium u.a. auch einer Glasharmonika feinsinnig und zugleich energiegeladen Mathias Lachenmayr), Katerina Giannitsioti prägnant im Klang am Violoncello und Marco Ricelli experimentell in der Klangerzeugung am Klavier.

(c) Peter Adamik

Ist der Titel BUKKAKE an sich eine Provokation, bezeichnet er mit dem japanischen Wort für „Spritzen“ oder „Spucken“ doch eine die Frau erniedrigende sexuelle Handlung, so erzählt das Monodram über die Verstörung hinaus in feinen klanglichen Fragmenten doch auch von Rücksichtnahme und Zuwendung. Zugleich trägt der Text starke surrealistische Züge, die auch dem oft poetisch genutzten Instrumentarium Farben geben.

Mit dem uraufgeführten Werk „In steps“ (ca. 21 Minuten) von Ricardo Eizirik führen sechs Musiker der Neuen Vocalsolisten (Stuttgart) eine streng wirkende Reihung von fünf durch Mikrofone verstärkten Stimmen auf, die ein Controller mit einem selbst gebauten Gerät auf fünf Tasten steuert. Inspiriert von einem „Step Sequenzer“ werden die menschlichen Stimmen wie elektronische Klänge und Geräusche in verschiedenen Zusammenstellungen, Abfolgen, Stückelungen wieder gegeben. Gemäß dem Festivalsmotto „Enter the void“, die Leere betreten, gibt es auch immer wieder Momente der Stille und des Stillstands. Das Werk wirkt allerdings sehr akademisch konstruiert.

Direkt den Titel VOID trägt die Auftragskomposition des IMPULS-Festivals von Carola Eyck für Theremin und die sechs Sänger der Neuen Vocalsolisten (Stuttgart).

Das Theremin ist keineswegs so modern, wie man vielleicht bei einem elektronischen Musikinstrument vermuten könnte. Es wurde bereits 1920 erfunden und ist seit den 1990iger Jahren populärer. Es wird berührungslos gespielt und erzeugt dabei direkt Töne. Die elektrische Kapazität des menschlichen Körpers beeinflußt ein elektrisches Feld. Dabei steuert die Position der Hände gegenüber zwei Elektroden („Antennen“) die Stärke der Veränderung. Die sich ändernde Schwingung des Feldes wird verstärkt und als Ton über einen Lautsprecher ausgegeben.

Die Theremin-Spielerin und Komponistin Carola Eyck spielt mit den Klangkontrasten von sechs menschlichen und über den Raum verteilten Stimmen und einer elektronischen Stimme mitten im Raum. Oft verschwimmen dabei in diesem Werk die Grenzen. Das wirkt ätherisch und häufig verschmelzen die Klänge. Eine solistische Rolle spielt dabei eigentlich nur das Theremin.

(c) Peter Adamik

Leer verlässt der Besucher dieses äußerst vielseitigen Konzerts zur Eröffnung von „Enter the void“ keineswegs den Saal des ältesten Varietés Deutschlands in Halle. Vielmehr ist er erfüllt von neuen, oft ungewohnten, artifiziellen und anspruchsvollen Musik- und Klangerlebnissen – oft auch optisch unterstützt durch das Instrumentarium.

Das Festival mit einem abwechslungsreichen Programm in zehn Städten (außer in Sachsen-Anhalt auch in Berlin und München) läuft noch bis zum letzten Konzert am 20. November 2020 in Magdeburg. Genug Gelegenheit in diesen schwierigen Zeiten für die Kultur Neugier für Ungewöhnliches und Zeitgenössisches zu stillen.

Dr. Guido Müller, 15. Oktober 2020, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Georg Friedrich Händel, Teseo Oper Halle, 2. Oktober 2020

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