Lieses Klassikwelt 52: Barockoper in Bayreuth

Lieses Klassikwelt 52, Barockoper in Bayreuth,  klassik-begeistert.de

Bayreuth hatte in diesem Spätsommer doch noch ein Opernereignis, und was für eines! Wer weiß, ob  der geplante neue Ring, wenn er denn seine Premiere erlebt hätte, es damit hätte aufnehmen können. Und da beim „Bayreuth Baroque“ ebenfalls internationale Stars wie Joyce DiDonato, Julia Lezhneva oder Franco Fagioli antreten, lässt sich nicht ausschließen, dass sich der Blick auf die Festspielstadt Bayreuth, die bislang noch ganz und gar mit Richard Wagner identifiziert wird,  einmal verändern oder erweitern könnte.

von Kirsten Liese

Ich hatte eigentlich nicht damit gerechnet, in diesem Jahr noch nach Bayreuth zu kommen. Die Richard-Wagner-Festspiele hatten mich in den vergangenen Jahren mit miserablen Inszenierungen zusehends ernüchtert, so dass ich noch zögerte, mich um Karten zu bemühen, dann kam ohnehin die Absage wegen Corona.

Aber jetzt war ich doch noch eines ganz anderen Ereignisses wegen in der fränkischen Kleinstadt, habe mich in anderen Räumen bewegt als gewohnt und alles einmal mit anderen Augen gesehen. Auf dem Grünen Hügel war ich  in den fünf Tagen einmal nicht, sondern stattdessen mehrfach im Markgräflichen Opernhaus und in der Schlosskirche, die ich mir zuvor in über 20 Festspielsommern seltsamerweise noch nie angeschaut hatte.

Anlass  dieser Reise war das von Countertenor und Regisseur Max Emanuel Cencic initiierte und gegründete erste Baroque Festival. Zu erleben galt es hier eine Sensation, stand doch im Zentrum mit Nicola Antonio Porporas nie zuvor gehörter Oper  Carlo il Calvo  ein Werk mit den Ausmaßen einer Wagneroper, – ein entdeckenswertes noch dazu!  In der um 18 Uhr beginnenden und um 23 Uhr endenden Vorstellung gab es sogar zwei Pausen mit Getränkeangebot im Freien.

Haben wir sonst nicht immer gehört, Oper und Konzert müsste sich in Corona-Zeiten auf 90 Minuten begrenzen und es dürfe zwecks Social Distancing keine Pause stattfinden? Griff nicht deshalb die Deutsche Oper Berlin für ihr  Rheingold  auf dem Parkdeck auf eine Kurzfassung zurück? Musste nicht Joanna Mallwitz Mozarts  Cosi fan tutte selbst in  Salzburg deshalb  kürzen? Und muss nicht die Deutsche Oper Berlin noch bangen, ob sie Wagners  Walküre  am 27. September zur Premiere bringen darf?

Jedenfalls frage ich mich, wie Max Emanuel Cencic seine Fünfstundenoper durchgebracht hat. Und das noch dazu im restriktiven Söder-Bayern. So einen langen  Opernabend mit üppiger Ausstattung hat man seit dem Lockdown nicht mehr erlebt.

Porpora, um zumindest ein paar Worte über den Komponisten zu verlieren,  muss mindestens ebenso produktiv gewesen sein wie Händel, mit dem er um 1733 in London rivalisierte. Jedenfalls soll er an die 60 Opern geschrieben haben! Im Carlo il calvo   geht  es um einen verfeindeten Familienclan. Dass das Stück im Mittelalter spielt, ist nicht so wichtig, da der Konflikt selbst, ein gewaltsamer Erbstreit, der allerhand Grausamkeiten nach sich zieht, zeitlos aktuell anmutet.

Bei Cencic wird die Story zu einer Art Telenovela auf einer kubanischen Hacienda in den 1920er Jahren. Dabei kommt ein Kunstgriff zum Tragen, den andere Regisseure in Corona-Zeiten vermutlich eher scheuen würden: 18 Statisten als zusätzliche Clanmitglieder illustrieren  das Geschehen mit Aktionen im Hintergrund. Auf die Weise können sich die Sängerinnen und Sänger in ihren Arien ganz auf ihre Stimme konzentrieren, ohne dass die Szene statisch wirken würde. Und da viel schwarzer Humor mitschwingt, wird der Abend nie lang.

Aber noch etwas anderes war hier auffallend: die Paradoxie von Abstandgeboten in einem historischen Theater. Von knapp 500 Sitzplätzen, über die das Markgräfliche Opernhaus verfügt, durfte  Cencic wie derzeit die meisten Theater in Bayern – ausgenommen die Bayerische Staatsoper und der Münchner Gasteig – nur 200 besetzen. Daran hat er sich freilich auch gehalten. Aber nun ist es in einem Logentheater des 18. Jahrhunderts gar nicht so einfach, selbst 200 Leute auf geforderten Abstand unterzubringen. Im Parkett  lässt sich der geforderte Abstand noch am ehesten umsetzen, da bleiben dann ganze Reihen mit bester Sicht frei. Im Rang, wo ohnehin nur wenige Zuschauer Platz finden, sitzt man dafür deutlich dichter beieinander.

Ich will mich darüber nicht beschweren, es lässt sich angesichts der Enge kaum anders einrichten. Aber es erscheint  absurd, dass man sich auf  Plätzen mit eingeschränkter Sicht den Hals ausrenken muss, um einen Blick auf die Bühne zu erhaschen und seinem Sitznachbarn fast auf den Schoß rückt, während unten jede Menge Stühle mit idealer Sicht frei sind. Wenn man im Rang dicht beieinander sitzt, sollte es im Parkett ebenso möglich sein. Zumal  das Bayreuth Baroque nach Salzburg abermals den Beweis erbracht hat, dass ein Mehr an Zuschauern nicht unweigerlich höhere Infektionszahlen mit sich bringt.

Cencic weiß, was er will und tritt selbstbewusst auf. Nein, er ist nicht bereit, irgendwas einzukürzen, sagt er im Interview, auch nicht Abstandsregeln auf der Bühne umzusetzen oder irgendwelche „Pseudoinszenierungen“ anzubieten, und er findet auch, dass die Sänger und Künstler, um die sich die Politik viel zu wenig gekümmert hat, jetzt mal dran sind, eine richtige Produktion zu gestalten,  und dass das Publikum mal die Chance haben sollte, fünf Stunden nicht an  Corona erinnert zu werden.

So klare Ansagen braucht es vermutlich, wenn ein solches Projekt gestemmt werden soll. Aber vermutlich kam noch ein anderer günstiger Faktor hinzu – die moderne neue Klima-Anlage des Markgräflichen Theaters, die wohl ähnlich funktionieren soll wie die Belüftungs-Anlagen in Flugzeugen.

Optisch ist das Markgräfliche unter allen historischen Theatern, die ich in letzter Zeit besichtigte, das imposanteste und schönste. Nur in einer Hinsicht steht es anderen  wie dem Schlosstheater Drottningholm, dem Goethe-Theater in Bad Lauchstädt oder dem ältesten deutschen Theater, dem Gothaer Ekhof-Theater, nach: Seine Kulissenmaschine kam im  Zuge von Modernisierungen  unter die Räder.

In Cencics  Inszenierung von Carlo il Calvo  wäre sie allerdings ohnehin nicht zum Einsatz gekommen. Für modernere Produktionen wie diese erweist sich die modernere Bühne geradezu als ideal. Nur eines war schade: Zur Operneinführung in der Eremitage fanden sich außer mir nur fünf Leute ein. Ich habe selten eine derart kompetente, aufschlussreiche und lebendig vorgetragene Einführung zu Oper oder Konzert erlebt wie diese des Dramaturgen Boris Kehrmann. Woran das wohl gelegen haben mag?

Dessen ungeachtet hatte Bayreuth in diesem Spätsommer doch noch ein Opernereignis, und was für eines! Wer weiß, ob  der geplante neue Ring, wenn er denn seine Premiere erlebt hätte, es damit hätte aufnehmen können. Und da beim „Bayreuth Baroque“ ebenfalls internationale Stars wie Joyce DiDonato, Julia Lezhneva oder Franco Fagioli antreten, lässt sich nicht ausschließen, dass sich der Blick auf die Festspielstadt Bayreuth, die bislang noch ganz und gar mit Richard Wagner identifiziert wird,  einmal verändern oder erweitern könnte.

Lieses Klassikwelt 43: Kirsten Flagstad klassik-begeistert.de

Lieses Klassikwelt 51, Salzburg – eine Nachlese

Kirsten Liese, 11. September 2021, für
klassik-beigeistert.de und klassik-begeistert.at

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© Kirsten Liese

Die gebürtige Berlinerin Kirsten Liese (Jahrgang 1964) entdeckte ihre Liebe zur Oper im Alter von acht Jahren. In der damals noch geteilten Stadt war sie drei bis vier Mal pro Woche in der Deutschen Oper Berlin — die Da Ponte Opern Mozarts sowie die Musikdramen von Richard Strauss und Richard Wagner hatten es ihr besonders angetan. Weitere Lieblingskomponisten sind Bruckner, Beethoven, Brahms, Schubert und Verdi. Ihre Lieblingsopern wurden „Der Rosenkavalier“, „Die Meistersinger von Nürnberg“, „Tristan und Isolde“ und „Le nozze di Figaro“. Unvergessen ist zudem eine „Don Carlos“-Aufführung 1976 in Salzburg unter Herbert von Karajan mit Freni, Ghiaurov, Cossotto und Carreras. Später studierte sie Schulmusik und Germanistik und hospitierte in zahlreichen Radioredaktionen. Seit 1994 arbeitet sie freiberuflich als Opern-, Konzert- und Filmkritikerin für zahlreiche Hörfunk-Programme der ARD sowie Zeitungen und Zeitschriften wie „Das Orchester“, „Orpheus“, das „Ray Filmmagazin“ oder den Kölner Stadtanzeiger. Zahlreiche Berichte und auch Jurytätigkeiten führen Kirsten zunehmend ins Ausland (Osterfestspiele Salzburg, Salzburger Festspiele, Bayreuther Festspiele, Ravenna Festival, Luzern Festival, Riccardo Mutis Opernakademie in Ravenna, Mailänder Scala, Wiener Staatsoper). Als Journalistin konnte sie mit zahlreichen Sängergrößen und berühmten Dirigenten in teils sehr persönlichen, freundschaftlichen Gesprächen begegnen, darunter Dietrich Fischer-Dieskau, Elisabeth Schwarzkopf, Mirella Freni, Christa Ludwig, Catarina Ligendza, Sena Jurinac, Gundula Janowitz,  Edda Moser, Dame Gwyneth Jones, Christian Thielemann, Riccardo Muti, Piotr Beczala, Diana Damrau und Sonya Yoncheva. Kirstens Leuchttürme sind Wilhelm Furtwängler, Sergiu Celibidache, Riccardo Muti und Christian Thielemann. Kirsten ist seit 2018 Autorin für klassik-begeistert.de .

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