Was zeichnet die außergewöhnlichen Ballette von John Neumeier aus?

Dona Nobis Pacem (Foto: Kiran West)

5 Jahrzehnte Hamburg Ballett John Neumeier, Teil X

Wie wohl bei keiner anderen Balletttruppe auf der Welt sind Neumeiers Tänzerinnen und Tänzer in der Lage, ihre Gefühle in Tanz zu wandeln, in das Innere einer Person zu schlüpfen und deren Haut so lange zu dehnen und zu strecken, bis sie mit dieser Figur eins geworden sind.

von Dr. Ralf Wegner

Viele Neumeier-Ballette faszinieren von Anfang an. Es gibt aber auch solche, die erst mit der Zeit einen inneren Sog zum Wiedersehen entwickelten. Mit jedem neuen Sehen ziehen Neumeiers Choreographien tiefer in die Geschichte und in die zwischenmenschlichen Beziehungen hinein, wie die recht komplexe Artus Sage, Neumeiers Interpretation von Anton Tschechows Drama Die Möwe oder zuletzt das intime Kammerballett Ghost Light. „Serie: 5 Jahrzehnte Hamburg Ballett John Neumeier, Teil X
Staatsoper Hamburg, 23. Januar 2024“
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John Neumeiers choreographische Inspiration lässt auch im 9. Lebensjahrzehnt nicht nach, unverändert gelingen ihm großartige Meisterwerke

Beethoven-Projekt II: Madoka Sugai und Alexandr Trusch (Foto: Kiran West)

5 Jahrzehnte Hamburg Ballett John Neumeier, Teil IX

Die im zweiten Teil des Beethoven-Projekt II genannten Stücks aufgeführte 7. Sinfonie des Bonner Komponisten ist so tanzüberbordend, dass einem schwindelig werden könnte. Ein Jahr später wagte sich Neumeier choreographisch an das wohl heiligste Werk der Musik­geschichte, an Johann Sebastian Bachs h-Moll Messe.


von Dr. Ralf Wegner

2021 widmete sich Neumeier einem weiteren Beethoven-Ballett, genannt Beethoven-Projekt II. Man kann sich Beethoven schlecht getanzt vorstellen, auch nicht die 9. Sinfonie, die Neumeier ursprünglich für eine Choreographie im Sinn hatte. Aber die im zweiten Teil von Beethoven-Projekt II aufgeführte 7. Sinfonie des Bonner Komponisten ist so tanzüberbordend, dass einem schwindelig werden könnte, das ist absolut sehenswert. Ein Jahr später wagte sich Neumeier choreographisch an das wohl heiligste Werk der Musikge­schichte, an Johann Sebastian Bachs h-Moll Messe. Er nannte es Dona Nobis Pacem. „Serie: 5 Jahrzehnte Hamburg Ballett John Neumeier, Teil IX
Staatsoper Hamburg, 19. Januar 2024“
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John Neumeiers Ballett "Die Kameliendame" wird auch in der 251. Vorstellung seit der Premiere im Jahre 1981 vom Publikum unverändert bejubelt

Madoka Sugai und Alessandro Frola als Marguerite und Armand (Foto RW)

Gestern tanzten Madoko Sugai und Alessandro Frola die Partien von Marguerite und Armand. Der Jubel am Ende der Vorstellung und die zahlreich geworfenen Blumensträuße bestätigten ihren großen Erfolg beim Publikum. Aber irgendetwas fehlte, und es war nicht die technische Beherrschung der Rollen, die war hervorragend.

Die Kameliendame
Ballett von John Neumeier nach dem Roman von Alexandre Dumas

Staatsoper Hamburg, Hamburg Ballett, 17. Januar 2024

von Dr. Ralf Wegner

Für die aktuelle Serie des Balletts Die Kameliendame wählte John Neumeier vier Tänzerinnen und vier Tänzer als Marguerite und Armand aus, und zwar Alina Cojocaru mit Alexandr Trusch, Anna Laudere mit Edvin Revazov, Madoka Sugai mit Alessandro Frola und Ida Praetorius mir Jacopo Bellussi.

„Die Kameliendame, Ballett von John Neumeier
Staatsoper Hamburg, Hamburg Ballett, 17. Januar 2024“
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Als das Ballett während Corona in vielen Städten darbt, schafft John Neumeier mit Ghost Light ein kammertänzerisches Meisterwerk

Ghost Light: Madoka Sugai und Nicolas Gläsmann (DVD, Videostill) 

5 Jahrzehnte Hamburg Ballett John Neumeier, Teil VIII

Ich habe lange überlegt, was die Faszination von Ghost Light ausmacht. Neumeiers Ballett löst in Kombination mit der Klaviermusik von Franz Schubert ein Gefühl von Einsamkeit vor der Allmacht Gottes aus. Es ist eine Empfindung, wie sie die Betrachtung der Bilder von Caspar David Friedrich abruft, wie sein Mönch am Meer, der in die Unendlichkeit schaut.

Ghost Light: Silvia Azzoni, Alexandre Riabko, Hélène Bouchet, Madoka Sugai, Nicolas Gläsmann (Fotos Kiran West)

von Dr. Ralf Wegner

Während andere Theater schlossen, probte John Neumeier mit Mitgliedern seines Ensem­bles, die sich im Leben nahe standen, ein neues Ballett ein. Er nannte es Ghost Light, passend zu der in Theatern auch auf der leeren Bühne immer brennenden Glühbirne. Zu der ohr­wurm­geeigneten Klaviermusik von Franz Schubert schuf er 2020 eine fast kammertänzerisch wirkende Serie von Soli und Pas de deux, die seinen charismatischen Tänzerinnen und Tän­zern Gelegenheit gaben, ihr Können und ihre Ausdrucksfähigkeit auch unter schwierigen Umständen unter Beweis zu stellen. „Serie: 5 Jahrzehnte Hamburg Ballett John Neumeier, Teil VIII
Staatsoper Hamburg, 16. Januar 2024“
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Wie wird woanders getanzt? Wir gehen mit Ballettfreunden auf Reisen

Moskau, 25. Oktober 2017, Tschaikowsky Festsaal, nach der Aufführung der Matthäuspassion, John Neumeier und Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, rechts davon Landesbischof Bedford-Strohm, links von John Neumeier der Botschafter Freiherr von Fritsch; ganz links der Dirigent Simon Hewett, ganz rechts der Ballettmeister Ivan Urban (Foto RW)

5 Jahrzehnte Hamburg Ballett John Neumeier, Teil VII

Aber wie wurde in Moskau und St. Petersburg getanzt? Technisch hochgedrillte Tänzerin­nen und Tänzer zeigten artistische Meisterleistungen, blieben aber darstellerisch zumeist blass und konnten, von Ausnahmen abgesehen, den von ihnen getanzten Prinzessinnen und Prinzen kein richtiges Leben einhauchen.

von Dr. Ralf Wegner

Erstmals nahmen wir 2012 an einer von dem Dramaturgen Richard Eckstein geleiteten Ballett­reise nach Moskau teil, unter entscheidender Mitwirkung der Ballettbetriebsdirektorin des Hamburg Balletts Ulrike Schmidt. Ein halbes Jahr später folgte St. Petersburg. Weitere Ballett-Reisen mit Richard Eckstein und Ulrike Schmidt führten uns noch im selben Jahr nach Den Haag und Amsterdam sowie 2014 nach London, 2015 nach Oslo und 2017 noch einmal nach Moskau. „5 Jahrzehnte Hamburg Ballett John Neumeier, Teil VII
Staatsoper Hamburg, 12. Januar 2024“
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John Neumeier gelingen mit den Uraufführungen von Liliom und Anna Karenina zwei weitere unvergessliche Meisterwerke

Italien-Pas de deux aus Anna Karenina: Anna Laudere und Edvin Revazov (Foto: Kiran West)

5 Jahrzehnte Hamburg Ballett John Neumeier, Teil VI

Schon allein wie Anna Laudere im Italien-Pas de deux in Anna Karenina auf die zarte Be­rührung Revazovs mit geschmeidigen Bewegungen reagiert, so als ob man beim Zusehen spürt, wie sich ihre feinen Härchen auf den Armen emporstellen, ist überaus sehenswert.


von Dr. Ralf Wegner

Die Rolle des Liliom war Carsten Jung auf den muskulösen Leib geschrieben. Bereits alters- und lebens­erfahren, lag ihm die Rolle des etwas proletenhaft auftretenden, aber auch sensibel reagierenden Karussell-Prinzen ganz besonders. Als seine ihn voller Liebe anbetende und die Launen Lilioms klaglos hinnehmende Julie hatte Neumeier die weltweit bewunderte Alina Cojocaru besetzt. „Serie: 5 Jahrzehnte Hamburg Ballett John Neumeier, Teil VI
Staatsoper Hamburg, 9. Januar 2024“
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Die als Küsterin für Evelyn Herlitzius eingesprungene Eliška Weissová machte Leoš Janáčeks Oper Jenůfa zu einem Ereignis

Janina Baechle (Alte Buryja), Clay Hilley (Laca), Laura Wilde (Jenůfa), Tomáš Netopil (musikalische Leitung), Eliška Weissová (Küsterin), Dovlet Nurgeldiyev (Stewa)

Eliška Weissová überzeugte mit ihrem ausgesprochen schallstarken, auch in der Tiefe noch voll klingendem Sopran nicht nur in den dramatischen Szenen, sondern ihr gelangen auch sehr gefühlvolle Töne, etwa bei der Bitte an Stewa, sich seines Sohnes anzunehmen. Der Bayreuth-erfahrene Clay Hilley lag mit seinem hellen, eher weißfarbigem Heldentenor immer satt über dem Orchester und konnte ebenso den Jubel des Publikums (leider nur gut 600 Zuschauerinnen und Zuschauer einfahren.


Leoš Janáček
Jenůfa

INSZENIERUNG: Olivier Tambosi
BÜHNENBILD UND KOSTÜME: Frank Philipp Schlößmann
LICHT: Hans Toelstede

Staatsoper Hamburg, 6. Januar 2024

von Dr. Ralf Wegner

Janáčeks Oper Jenůfa findet sich eher selten auf dem Spielplan, wird wohl auch wegen des grausigen Inhalts nicht so gern gesehen. Denn das Schicksal einer verlassenen Schwangeren, deren Ziehmutter keine andere Lösung weiß, als das Neugeborene zu töten, ist schon herbe Kost. Karita Mattila war einst eine ganz herausragende Jenůfa und später auch eine völlig überzeugende Küsterin. Als großartige Küsterin blieb auch Éva Marton in Erinnerung. „Leoš Janáček, Jenůfa
Staatsoper Hamburg, 6. Januar 2024“
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Zwei absolute Traumpaare bereichern das Hamburger Ballett: Silvia Azzoni und Alexandre Riabko sowie Hélène Bouchet und Thiago Bordin

Silvia Azzoni, rechts als kleine Meerjungfrau (aus: Jahrbücher Ballett-Tage 2006/07, Fotos Holger Badekow)

5 Jahrzehnte Hamburg Ballett John Neumeier, Teil V

Beide Paare, vor allem Silvia Azzoni und Alexandre Riabko, aber auch Hélène Bouchet und Thiago Bordin waren so aufeinander eingeschworen, das ihre Pas de deux immer zu den Höhepunkten einer Aufführung wurden. Das neue Jahrzehnt begann allerdings mit einem Paukenschlag, und zwar mit Neumeiers ikonischem Ballett Nijinsky.

von Dr. Ralf Wegner

2005 choreographierte John Neumeier für das Kopenhagener Ballett anlässlich des 200. Geburtstags des dänischen Dichters Hans Christian Andersen das Märchenballett Die kleine Meerjungfrau. Eine an das Wasserelement gebundene Nixe rettet einen Schiffsoffizier vor dem Ertrinken und verliebt sich unsterblich in ihn. Sie trennt sich von ihrem Flossenkörper und begibt sich, kaum gehfähig, an Land, um dem Geliebten nahe zu sein. Der hat aber bereits eine andere und die Nixe bleibt allein zurück. Die Geschichte hat natürlich noch mehrere Wen­dun­gen, aber wenn sie am Ende, von dem ebenfalls einsamen Dichter geholt, in den Sternen­himmel hochfährt, bleibt kein Auge im Publikum trocken. „Serie: 5 Jahrzehnte Hamburg Ballett John Neumeier, Teil V
Staatsoper Hamburg, 5. Januar 2024“
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John Neumeiers sehr privates, auf seine Tänzerinnen und Tänzer zugeschnittenes Corona-Ballett Ghost Light nach Klaviermusik von Franz Schubert überwältigt die Seele

Caspar David Friedrich (1774-1840): Der Mönch am Meer, Öl auf Leinwand, 110,0 x 171,5 cm, 1808/10 (Foto: RW)

Das Ballett hinterlässt ein Gefühl von Einsamkeit, von dem Wissen um die Allmacht der Natur, von unserer eigenen Vergänglichkeit. Es ist eine Empfindung, wie sie die Betrachtung der Bilder von Caspar David Friedrich abruft, wie sein Mönch am Meer, der die Unendlichkeit schaut.

Ballett von John Neumeier
Ghost Light

Hamburg Ballett, Staatsoper Hamburg, 4. Januar 2024

von Dr. Ralf Wegner

Neumeiers Ballett Ghost Light zeigt eine stete Abfolge von Pas de deux, die, sich mit Soli oder anderen Pas de deux überschneidend, ineinander übergehen. Am Anfang steht allerdings eine Geistererscheinung. Anna Laudere, als Marguerite aus Neumeiers Kameliendame gekleidet, erscheint auf der leeren Bühne, ist sich ihrer selbst nicht bewusst, bemerkt ihre Kostümierung und erinnert sich bestürzt an ihr vergangenes Sein. Sie ist in einer Zwischenwelt gefangen. Die Bühne belebt sich. „Ghost Light, Ballett von John Neumeier
Hamburg Ballett, Staatsoper Hamburg, 4. Januar 2024“
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John Neumeier gewinnt den Ausnahmetänzer Lloyd Riggins für das Hamburger Ballett und engagiert die Zwillinge Jiří und Otto Bubeníček

Lloyd Riggins (aus: Jahrbuch Ballett-Tage 1998, Foto Holger Badekow)

5 Jahrzehnte Hamburg Ballett John Neumeier, Teil IV

Allein wie Lloyd Riggins es schaffte, mit dem Regenschirm gegen Wind anzukämpfen, war schon eine klassische Meisterleistung. Nicht er zog den Schirm, sondern der nicht vor­han­dene Wind zog ihn über die Bühne. Um es anders auszudrücken, es gelang Riggins mit dar­stellerischen Mitteln Wind im Auge des Betrachters zu erzeugen, ohne dass eine Windmaschine eingesetzt werden musste.


von Dr. Ralf Wegner

1996 wurde Mats Ek beauftragt, in Ergänzung zu Neumeiers klassischem Dornröschen, eine eigene Version des Märchens auf die Hamburger Opernbühne zu bringen. Bettina Beckmann sollte die Hauptrolle tanzen, schied aber, ich meine direkt nach der Premiere, wegen einer Verletzung aus. Die Rolle wurde von der 1993 aus der Ballettschule in das Ensemble gewechselte Silvia Azzoni übernommen.

Lloyd Riggins sowie Jiří und Otto Bubeníček (aus: Jahrbuch Ballett-Tage 2003, Fotos Holger Badekow)

Ihre Leistung als widerspenstiges Mädchen, dass sich ihren Eltern, getanzt von Lloyd Riggins und Joëlle Boulogne, widersetzt, beim Familienausflug das Auto nicht verlässt und sich schließlich von dem Drogendealer Carabosse (Gamal Gouda) den Schuss geben lässt, war tief beeindruckend. Ich erinnere mich noch heute wie gestern, die junge Ensembletänzerin gefühlt minutenlang zitternd wie Espenlaub auf dem Boden liegend gesehen zu haben. Die Eltern verschwanden aus ihrem Leben, Riggins und Boulogne sprangen unvermittelt in den Orchestergraben und tauchten erst beim Schlussvorhang wieder auf. „Serie: 5 Jahrzehnte Hamburg Ballett John Neumeier, Teil IV
Staatsoper Hamburg, 2. Januar 2024“
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