von Jolanta Łada-Zielke
„In Richard Wagners Werkverzeichnis stehen nur 13 vollendete Opern, aber daneben viele mehr oder weniger bekannte Nebenwerke“ – las man in der Einladung zu Dr. Frank Pionteks1 Zoom-Vortrag, der am 13. März gehalten wurde und ungefähr hundert Personen vor den Computermonitoren versammelte. Der Referent, der unseren Lesern bereits bekannt ist, präsentierte diesmal neun ausgewählte Stücke aus allen Gattungen, die Wagner in seiner Jugendzeit komponiert hat. Die Veranstalter waren zwei Wagnerverbände aus Bayern. Die Vorsitzende des Wagnerverbands Nürnberg, Agnes Simona Sires, moderierte dieses virtuelle Treffen und Karl Russwurm, der Präsident des Münchner Verbands, ließ die Musikbeispiele laufen. Als er auf dem Bildschirm erschien, war hinter seinem Rücken ein Bild der Postgebäude auf dem Grünen Hügel zu sehen. Mit großer Aufmerksamkeit kontrollierte er und stellte die Lautstärke auch während der Stücke entsprechend ein. Es waren ausgesprochen interessante Passagen aus den kaum bekannten Frühwerken Richard Wagners. Obwohl es am Ende einige technische Schwierigkeiten gab, gelang es dem Referenten, den gesamten Inhalt zu vermitteln.
Einige der frühen Werke Wagners sind Unikate, die Piontek auf dem „grauen Markt“ erworben hat, weil beispielsweise die Ouvertüren selten aufgeführt wurden. Der Referent erinnerte uns an die Existenz eines ganzen Bandes von Wagners gedichteten Texten, die der Komponist nicht vertont hat. Dazu gehört sein erstes Theaterstück, eine 5-aktige Tragödie „Leubald“, die Richard als 15-16-jähriger Schüler verfasste.
Natürlich fangen Wagners Hauptwerke mit „Die Feen“ an. Seine ersten musikalischen Versuche waren jedoch keine Opern, sondern Ouvertüren und Konzertstücke, die noch vor dem Jahr 1831 entstanden sind. Er hat relativ spät Kompositionsunterricht genommen und brauchte mehr Zeit, um sich vom Einfluss seiner Lehrer zu befreien und seine eigene Musik zu schreiben.
Das erste Beispiel, das wir hören, sind zwei Sätze aus dem „Faust“-Zyklus, der insgesamt sieben Gesangsstücke umfasst. Diese wurden erst nach Wagners Tod neu entdeckt und gespielt. Der Referent rät uns, beim Hören nicht an Wagner zu denken, wenn man schon seine gesamte Musik kennt. Also lege ich mein ganzes Wissen beiseite und höre mir den ersten Titel „Lied der Soldaten“ genau an. Es ist ein angenehmer, eingängiger Marsch. Im zweiten, „Bauer unter der Linde“, herrscht eine ähnliche Stimmung wie in „Die Jahreszeiten“ von Haydn. Die Solo-Sopranistin singt dort an einer Stelle ein schönes Glissando. Frank Piontek fügt hinzu, dass dort noch keine typischen Merkmale von Wagners Schaffen hörbar sind; er schrieb auf der Grundlage dessen, was er gerade gelernt hatte.
Fleißiger Lehrling des großen Meisters
Wagner war ein fleißiger Komponist, Publizist, Autor von Dramen, Dichter und Briefeschreiber. Piontek bemerkt, dass seine Orchesterpartituren, besonders die aus dem Jahr 1831, seine Beschäftigung mit Beethoven widerspiegeln. Das ist nichts Ungewöhnliches. Bereits im Kompositionsunterricht beschäftigte sich der junge Wagner mit den Ouvertüren des Bonner Meisters. Er musste mit irgendetwas anfangen. Darüber hinaus war in den 20er und 30er Jahren des 19. Jahrhunderts die Ouvertüre in Leipzig eine sehr beliebte Gattung, insbesondere Beethovens Konzertouvertüren.
Von all diesen Faktoren beeinflusst, schuf Richard Wagner die „d-Moll-Ouvertüre“, die man einige Male in Leipzig aufführte. Dank ihr wurde Wagner dort bekannt, damals noch als Komponist von Instrumentalmusik. Laut Dr. Piontek kann man in diesem Stück schon Merkmale aus Wagners „Zukunftsmusik“ finden, nämlich einen kurzen Stilanklang aus dem dritten Akt des „Parsifal“. Wagner hatte ein „Elefantengedächtnis“, vor allem in musikalischem Sinne, und verwendete Motive aus seinen Jugendproben in seinen späteren, reifen Werken. Ich höre in diesem Stück viel Einfluss von Beethoven. Die lyrische Partie der Oboe gefällt mit besonders gut.
Als nächstes Stück stellt der Referent die „Fantasie fis-Moll“ vor. Man hört dort schon scheinbar etwas aus „Tristan und Isolde“ und „Tannhäuser“. Die dort spürbare dunkle Melancholie erinnert mich an eines von Chopins Nocturnes.
Wagners Klaviersonaten, die er im Alter von 16-17 Jahren komponierte, klingen relativ dilettantisch, so Frank Piontek. Dies betrifft die „Klaviersonate A-Dur“, in der der Komponist Beethovens Variationstechnik verwendete. Der dynamische Teil des präsentierten Fragments klingt ähnlich wie der dritte Satz der „Mondscheinsonate“, aber majestätischer.
Außer der C-Dur-Symphonie versuchte Wagner gleich zu Beginn seiner Bekanntschaft mit Minna Planer eine zweite Symphonie zu schreiben. Er schaffte aber nur den ersten Satz. In den 1980er Jahren wurden die zwei Sätze entdeckt und gespielt. Frank Piontek fragt scherzhaft, ob Wagner nur deshalb Opern und Musikdramen komponierte, weil er es nicht schaffte, autonome Symphonien zu schreiben.
Auf dem Weg zu den „Feen“
Der erste romantische Opernversuch Richard Wagners aus dem Jahr 1832 trug den Titel „Die Hochzeit“. Musikalisch ähnelt diese Oper dem „Freischütz“ von Carl Maria von Weber, und inhaltlich „Tristan und Isolde“; der Protagonist tötet den Verlobten der Hauptheldin, die dem Mörder verfallen ist. Wagners Schwestern waren jedoch von dieser Oper entsetzt, sie fanden die Geschichte zu traurig und grausam. Richard vernichtete also das Manuskript. Nur ein Fragment dieses Werks ist bis heute erhalten, mit der Besetzung vom Chor und einem Septett der Solisten, das 1933 am Theater in Rostock uraufgerührt wurde. In dem Mitschnitt hört man schon die Merkmale von „Die Feen“. Für mich klingt es feierlich, wie der Frauenchor am Ende des dritten Akts von „Tannhäuser“.
Dann hören wir uns eine Komposition an, die Frank Piontek als die schlechteste in Wagners Werk ansieht: nämlich die Hymne an Zar Nikolaus I., geschrieben anlässlich dessen Geburtstages. Die Besetzung umfasst Sopran und Chor, aber die Passagen die Skala auf und ab ähneln den ersten Klavierübungen. Das Stück soll ein Keim der zukünftigen „Meistersinger“ sein; wenn überhaupt, dann befinden sie sich noch im Kindergarten.
Frank Piontek macht uns auf ein besonderes Phänomen des Frühwerks des späteren Meisters aus Bayreuth aufmerksam. Dies ist seine Bearbeitung eines Klavierlieds von Rossini – „I Marinari“ (Die Matrosen) für Orchester und Gesangsstimmen, die 1839 während Wagners Aufenthalts in Riga entstand. Das Fragment, das wir hören, erinnert an das Duo von Daland und dem Steuermann aus „Der fliegende Holländer“, obwohl es von Rossini geschrieben wurde. Anfangs gibt es Sturmgeräusche im Hintergrund, aber das Ende dieses Liedes ist heiter. Beide Solisten singen über den Regenbogen, der am Himmel erscheint, und über die Liebe und rufen am Ende triumphierend: „Viva il mar!“ (Es lebe das Meer!).
Das letzte Werk ist eine Überraschung für uns alle. Wir sehen einige Mitschnitte aus Wagners Klavieroper „Männerlist ist größer als Frauenlist“. Sie ist fast unbekannt, wurde erst 1994 entdeckt und im März 2013 in Berlin szenisch-musikalisch uraufgeführt. Frank Piontek, der an diesem Projekt als Dramaturg beteiligt war, wundert sich, warum diese Oper nicht gespielt wird, weil sie Wagner von einer anderen persönlichen, authentischen und komischen Seite zeigt. Es war mir eine große Freude, die letzte Szene aus einer Nürnberger Inszenierung von 2013 zu sehen, in der die Helden der Oper zusammen eine Polonaise tanzen. Zu der „Polonia“-Ouvertüre, „Das Rheingold“ und „Die Götterdämmerung“ kommt also ein weiteres Stück, das Wagners Faszination für diesen polnischen Tanz beweist.
Am Ende des Vortrags sammelt der Redner viel Lob. Es war wirklich ein sehr spannender Nachmittag, an dem Wagner-Fans einige neue Dinge erfahren haben. Nächstes Jahr soll Frank Piontek diesen Vortrag mit noch mehr Material wiederholen.
Am Ende greife ich auf eine seiner Aussagen zurück: Sich über Wagner zu unterhalten, bedeutet sich zu streiten. Ist das wirklich so? Meiner Meinung nach heißt es eher diskutieren, und das soll eine konstruktive sowie kreative Diskussion sein.
Jolanta Łada-Zielke, 29. März 2021, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
1 Dr. Frank Piontek ist Hobbymusikwissenschaftler, Literaturwissenschaftler, Dramaturg und Journalist. Er lebt in Bayreuth.
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Jolanta Łada-Zielke, 49, kam in Krakau zur Welt, hat an der Jagiellonen-Universität Polnische Sprache und Literatur studiert und danach das Journalistik-Studium an der Päpstlichen Universität Krakau abgeschlossen. Gleichzeitig absolvierte sie ein Gesangsdiplom in der Musikoberschule Władysław Żeleński in Krakau. Als Journalistin war Jolanta zehn Jahre beim Akademischen Radiorundfunksender Krakau angestellt, arbeitete auch mit Radio RMF Classic, und Radio ART anlässlich der Bayreuther Festspiele zusammen. 2003 bekam sie ein Stipendium vom Goethe-Institut Krakau. Für ihre journalistische Arbeit wurde sie 2007 mit der Jubiläumsmedaille von 25 Jahren der Päpstlichen Universität ausgezeichnet. 2009 ist sie der Liebe wegen nach Deutschland gezogen, zunächst nach München, seit 2013 lebt sie in Hamburg, wo sie als freiberufliche Journalistin tätig ist. Ihre Artikel erscheinen in der polnischen Musikfachzeitschrift „Ruch Muzyczny“, in der Theaterzeitung „Didaskalia“, in der kulturellen Zeitschrift für Polen in Bayern und Baden-Württemberg „Moje Miasto“ sowie auf dem Online-Portal „Culture Avenue“ in den USA. Jolanta ist eine leidenschaftliche Chor-und Solo-Sängerin. Zu ihrem Repertoire gehören vor allem geistliche und künstlerische Lieder sowie Schlager aus den zwanziger und dreißiger Jahren. Sie ist seit 2019 Autorin für klassik-beigeistert.de.
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